Srebrenica: Filme für eine bessere Zukunft

Die Fahrt von Sarajevo in die ostbosnische Stadt Srebrenica führt durch eine wunderschöne Landschaft. Es ist Mitte Juli. Die Natur, die heute so friedlich erscheint, war vor 29 Jahren Schauplatz eines der schlimmsten Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, das als Massaker von Srebrenica in die Geschichte einging. Am 11. Juli 1995 stürmten serbische

Die Fahrt von Sarajevo in die ostbosnische Stadt Srebrenica führt durch eine wunderschöne Landschaft. Es ist Mitte Juli. Die Natur, die heute so friedlich erscheint, war vor 29 Jahren Schauplatz eines der schlimmsten Kriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg, das als Massaker von Srebrenica in die Geschichte einging. Am 11. Juli 1995 stürmten serbische Milizen während des Balkankrieges die UN-Schutzzone Srebrenica. In Anwesenheit niederländischer UN-Blauhelme wurden mehr als 8.000 Muslime, darunter auch Minderjährige, von den Serben getötet und in Massengräbern verscharrt. Bis heute suchen Überlebende nach ihren Angehörigen und Verwandten. Die gefundenen sterblichen Überreste werden jedes Jahr am 11. Juli beigesetzt.

Die meisten Touristen besuchen heute das Memorial Center und den Friedhof im Dorf Potoćari bei Srebrenica, wo sich einst der Hauptstützpunkt der niederländischen UN-Friedenstruppen befand. Heute dient er als Mahnmal und Gedenkstätte. Hasan Hasanovic arbeitet seit 16 Jahren im Memorial Center. Im Juli 1995 floh er mit seinem Zwillingsbruder, Vater und Onkel aus Srebrenica in die Sicherheitszone der Stadt Tuzla. Er überlebte als Einziger den sogenannten Todesmarsch. “Meine getöteten Familienmitglieder und all die anderen Opfer sind der Grund, warum ich nach Srebrenica zurückgekehrt bin. Sie können nicht mehr für sich selbst sprechen. Wir müssen jetzt ihre Stimme sein”, erklärt er. Er erzählt, dass das Interesse der internationalen Gemeinschaft und Europas am Genozid anfangs sehr gering war. Doch dank dem Engagement der Überlebenden, die weltweit über den Völkermord berichteten, änderte sich das.

Ein großen Teil zur Sichtbarkeit haben die Mütter von Srebrenica beigetragen. Frauen, deren männliche Angehörige getötet wurden, haben die Vereinten Nationen gezwungen, die Opfer zu finden und die Verantwortlichen für den Völkermord zur Rechenschaft zu ziehen. “Einer ihrer größten Erfolge ist die Srebrenica-Resolution, die im Mai dieses Jahres von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde”, sagt Hasan. Dennoch ist es für ihn schwierig optimistisch zu bleiben. Das liegt auch daran, dass es im Land keine Vergangenheitsbewältigung gibt: “So ist es schwierig, politische Stabilität zu schaffen und die Wirtschaft anzukurbeln, damit die jungen Leute im Land bleiben.” Doch spürt auch er einige optimistische Schritte. Er hat mehrere Bücher geschrieben und hält weltweit Vorträge. Besonders wichtig ist ihm die Arbeit mit jungen Menschen: “Damit wird ihr Bewusstsein geschärft, dass ein Völkermord nicht mehr geleugnet werden kann und Geschichtsrevisionismus nicht mehr möglich ist.”

Nur einen Kilometer vom Memorial Center entfernt findet gerade ein Summer Boot Camp für junge Menschen statt. “Er jährt sich dieses Jahr zum 19. Mal”, erzählt der 27-jährige Enver Pezerović. Der sympathische Bosnier arbeitet seit zwei Jahren für das Internationale Forum für Solidarität EMMAUS, das das Camp ins Leben gerufen hat. Auch er war zunächst drei Jahre als Volontär tätig: “Die humanitäre Arbeit und die Freundschaften haben in mir den Wunsch geweckt, fest für diese NGO zu arbeiten. Als sie mir 2022 eine Stelle anboten, habe ich sofort zugesagt”. Er lebt und arbeitet in der Stadt Doboj, wo auch EMMAUS seinen Sitz hat. Für die NGO arbeitet er als Fahrer, im Workcamp ist er der Mann für alles und ein absoluter Optimist: “Ja, wir hatten hier Krieg. Aber der ist vorbei. Heute gibt es kaum noch Provokationen von Serben in der Stadt Srebrenica, ausser am 11. Juli. Aber auch das sind Ausnahmefälle”, erklärt er.

Dieses Jahr haben sich 70 Volontäre aus fünf verschiedenen Ländern, darunter auch Serbien, zusammengefunden. Sie bauen das Camp weiter aus, besuchen die Mütter von Srebrenica und ältere Menschen in den umliegenden Dörfern, um ihnen eine warme Mahlzeit zu bringen und im Haushalt zu helfen. Oder sie leisten ihnen einfach Gesellschaft. Erstaunlich ist, dass kaum jemand im Land von diesem Camp weiß. “Im Jahr 2020 haben wir während des Workcamps ein Open-Air-Kino veranstaltet. Die Medien hat das nicht interessiert. Als jemand ein kleines Bild des Kriegsverbrechers Ratko Mladic an einen Pfeiler geklebt hat, kamen 16 Medien und haben darüber berichtet. Das war die Mega-Nachricht. Niemand wollte darüber berichten, dass sich hier gerade 80 junge Menschen aus aller Welt und der Region, darunter Serbien und die Republika Srpska, trafen, um als Freiwillige zu arbeiten”, erzählt Ado Hasanovic. Der italienischen Regisseur mit Wurzeln in Srebrenica ist hier selbst als Volontär seit 2019 tätig. Seine Familie stammt aus der Stadt Bratunac in der Nähe von Potoćari, wo er geboren und aufgewachsen ist. Gemeinsam mit EMMAUS und der Organisation Admon Film, einem in Sarajevo ansässigen Kulturverein zur Vermittlung und Förderung von Filmkultur, hat er einen Filmworkshop ins Leben gerufen. Dieser erfreut sich bei den Volontärenseit Jahren großer Beliebtheit. Tagsüber lernen sie, ihre Aktivitäten dokumentarisch festzuhalten. Am Abend wird das Material zu einem Kurzfilm zusammengeschnitten und beim abendlichen Get Together vorgeführt.

Er blickt über den Campus: “Im ersten Moment war es für mich schockierend zu sehen, wie junge Menschen aus aller Herren Länder die Infrastruktur in der Region wieder aufbauen. Wenn man sieht, was sie in den letzten 19 Jahren geleistet haben, ist das sehr beeindruckend”. Ado war sechs Jahre alt, als der Krieg begann. Sein Großvater wurde getötet, seine sterblichen Überreste sind bis heute nicht gefunden worden. Sein Vater war Amateurfilmer und Kameramann in Srebrenica in der Sicherheitszone und dokumentierte die damaligen Ereignisse. “Die Liebe zum Film habe ich von ihm. Durch das Filmen heile ich mich von all den Traumata, die ich im Krieg erlebt habe. Es ist eine gute Möglichkeit, mich von den schrecklichen Ereignissen zu distanzieren und gleichzeitig darüber zu sprechen.”

So hat er das internationale Silverframe Filmfestival ins Leben gerufen, das in diesem Summer Work Camp zum ersten Mal stattfand. Das Thema? Alles außer Krieg. „Wir wollen hier mit Filmen Brücken bauen, die uns verbinden soll. Ja, es stimmt, es gibt immer noch viele Menschen, die den Völkermord leugnen. Aber das darf kein Grund sein, nur über die Vergangenheit zu sprechen. Es ist sehr wichtig, mit neuen Projekten eine Zukunft aufzubauen”, erklärt Ado.

Jetzt wird tagsüber gearbeitet, an Workshops mit Mentoren teilgenommen und abends werden Filme geschaut. Die Jury für den Award besteht aus Volontären und Jugendlichen aus der Region. Mit gezeigt werden preisgekrönte Filme aus Cannes, Sundance und Sarajevo. Dieses Festival soll auch talentierte junge Menschen aus der Region fördern: “Wir wollen zeigen, dass auch hier Talente auf europäischem und internationalem Niveau schlummern”, sagt Ado.

Anna Rammskogler-Witt, Mitbegründerin der Dokumentale in Berlin, präsentiert hier einen deutschen Dokumentarfilm: “Ich war begeistert von der Idee, ein Filmfestival in Srebrenica ins Leben zu rufen, das nichts mit dem Genozid zu tun hat. Ich kannte auch das Konzept dieses Workcamps. Ado setzt im Prinzip dasselbe um, nur in einem filmischen und künstlerischen Kontext”. Sehr beeindruckt war sie von ihrem Besuch bei den Müttern von Srebrenica, die heute direkt neben dem Camp in einem neu eröffneten Seniorenheim leben. Sie durfte mit filmen, als die Frauen mit einem jungen Regisseur über den Klimawandel sprachen.

Der junge Regisseur ist der 27-jährige Dino Gluhović aus Mostar. Srebrenica kennt er nur durch etliche Besuche des Memorial Centers und des Friedhofs. Er weiss auch, dass sehr viele junge Menschen Srebrenica verlassen: “Das liegt daran, dass diese Region nur mit dem Genozid in Verbindung gebracht wird. Sie sind in dieser Geschichte gefangen und können sich kaum davon befreien.” Er kam als Mentor zum Filmfestival, nachdem er vom Camp erfuhr: “Hier tun die jungen Teilnehmer etwas Nützliches und erzählen eine andere Geschichte von hier.” Mit den Bewohnern des Altenheims wollte er über ein ganz anderes Thema sprechen. Sie empfangen selten Besuch. Und wenn, dann gehen die Gespräche meistens um den Krieg. Sein Thema: Natur damals und heute. Die Bewohner sollten von ihrer Kindheit erzählen und wie sich das Klima hier über die Jahre verändert hat. Immer wenn sie in die Traurigkeit zurückfielen, versuchte er, das zu kompensieren. Er tat dies mit Gesellschaftsspielen. Der kleine Sohn eines Mentors war mit dabei. Der Enthusiasmus des Kindes steckte sie an und die alten guten Erinnerungen kamen wieder hoch: “Der Moment, in dem das Kind in ihnen wieder erwacht, ist der Moment, in dem man weiß, dass man gewonnen hat. Als ich das Lächeln auf ihren Lippen sah, war mein Herz erfüllt”, sagt Gluhovic.

Der serbische Regisseur Stevan Filipovic, der in der serbischen Hauptstadt Belgrad lebt, war froh, mit seiner Teilnahme das Crossover-Projekt unterstützen zu können: “Ein Regisseur, der einen Teil seiner Familie durch den Genozid verloren hat, entwickelt dieses mutige Filmprojekt, das die Opfer von Srebrenica respektiert und gleichzeitig der Gemeinschaft in Srebrenica wieder Leben zurückgibt.“ Das gemeinsame Interesse am Film und Umweltschutz verband die Jugendlichen aus ganz Europa und der Region: “Die Mikro-Teilung des Landes Jugoslawien hat uns an den gleichen Punkt gebracht. Wenn es in Serbien zu einer Umweltkatastrophe kommt, wirkt sich das auch auf die Nachbarländer aus.” Er erzählt, dass die Teilnehmer des Camps sich bewusst sind, dass alle gemeinsam in eine Richtung gehen müssen, um etwas zu bewegen: “Ich hoffe sehr, dass die Jugend Verantwortung übernimmt und klüger ist als unsere Generation”, sagt er nachdenklich.

Ob er an eine bessere Zukunft für Srebrenica glaube? Ja, die Geschichte ist sehr kompliziert, aber der Weg, den Ado und das Jugendcamp gehen, sind der einzig mögliche Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft für die jungen Menschen.

Ado Hasanović sitzt zusammen mit anderen Mentoren des Filmfestivals am Lagerfeuer und hört den Klängen der Gitarre zu: “Natürlich ist es wichtig, die Vergangenheit nicht zu vergessen, um die Erinnerung wach zu halten. Aber Srebrenica hat andere Probleme, wie Umweltverschmutzung und Abwanderung. Für mich ist Srebrenica kein Grab, sondern eine Stadt, die trotz der vergangenen schrecklichen Ereignisse wieder ins Leben zurückkehren will”.

Mirella Sidro, Sarajevo

 

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